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Full text of "Claus Leggewie, "Die Abgehängten" (Gedanken zur Zeit, NDR, 4. August 2017)"

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Kulturelles Wort 
Redaktion: Stephanie Pieper 




Rkultur 


Sendung am: 06.08.2017 

19.05-19.15 Uhr 


GEDANKEN ZUR ZEIT 

Die Abgehängten 

Zur aufgeladenen Debatte über "Soziale Ungerechtigkeit" 
Von Claus Leggewie 


GEDANKEN 
ZUR ZEIT 


Sonntags 
19.05- 19.15 Uhr 


Manuskript und Sprechen: Claus Leggewie 


Telefon: 

0511 / 988-2321 


Zur Verfügung gestellt vom NDR 

Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für 
private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere 
Verwendung (z. B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der 
Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist 
nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für 
Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. 

- Unkorrigiertes Exemplar - 



Abhängen ist ein vieldeutiges Wort. In der Jugendsprache, in der man dazu lieber 
chillen sagt, bedeutet es entspannen, faulenzen, herumhängen, nichts tun, zur Ruhe 
kommen. Gut abgehangen, weil lange gelagert, geräuchert und sich entfaltend, sind 
Genussmittel, die wir gerne verzehren. Nun ist eine neue Verwendung des Wortes in 
die politische Sprache eingewandert: das „Abgehängtsein“, ein sozialpolitischer 
Kampfbegriff von Populisten für Menschen, welche von den üblichen Verdächtigen - 
das sind Eliten, Finanzkapital, die Politik etc. - ins Abseits gestellt und vergessen 
worden seien. Und interessanterweise nennen sich die so bezeichneten dann auch 
selbst „Abgehängte“. 

Aus dieser Vogelperspektive gibt es ein klares Oben (die Eliten) und ein klares 
Unten (das Volk), das sich auch räumlich niederschlägt: reiche Boomtowns versus 
armes Hinterland, das durch Schrumpfung und Verödung unattraktiv wird. In dem 
Zusammenhang wird „Urbanität“ zum Codewort für Arroganz, Kälte und Zynismus. 
Abgehängte stehen, um im Bild zu bleiben, herum wie Waggons, die an einer 
verlassenen Bahnstation von einem Schnellzug abgekoppelt und vor Jahren dort 
stehen gelassen wurden. Das sei das Lebensgefühl vieler Menschen „draußen im 
Lande“, lautet die populistische Opfererzählung. 

Ohne Frage: Es gibt solche Gebiete. Man entdeckt sie bei Bahnfahrten in Ost- 
und Westdeutschland und in vielen Gebieten Europas, wo auf toten Gleisen vor 
hohläugigen Backsteinbauten rostige Güterwagen stehen, überwuchert vom Unkraut. 
Industriebrachen, in denen offensichtlich seit Langem nichts mehr hergestellt wird, 
und ganze Bezirke, in denen sich dergleichen häuft und zu einem Bild allgemeiner 
Trostlosigkeit fügt. Wo sich länger „broken Windows“ (zerbrochene Fensterscheiben) 
zeigen, hieß einmal eine auf New Yorker Problemviertel bezogene Polizeitheorie, da 
wachse soziale Anomie, ein Zustand, den schon die Gründer der Soziologie als 
Krebsgeschwür moderner Gesellschaften identifizierten, als Vorstufen zu ihrem 
Zerfall und Einfallstor für autoritäre Führergestalten. 

Demoskopen und Wahlforscher legen jetzt Karten solcher Zonen über die von 
Erfolgen populistischer Mandatsbewerber und entdecken starke Überschneidungen, 
aus denen sich eine Erfolgsgeschichte der Art basteln lässt, wonach die Trumps, Le 
Pens und Gaulands dort gewinnen, wo Unternehmen dichtgemacht wurden. Sie 
kassieren, als politische Unternehmer, an Stelle der einst dominierenden Linken von 



den Verlierern der Modernisierung und Globalisierung die Stimmen der - ja: der 
Abgehängten. 

Aus der Froschperspektive sieht die Sache weit komplizierter aus als in dem 
gern gewählten Bild des Aufstands der Peripherie gegen die Metropolen. Drei 
Aspekte modifizieren das Bild, wenn man es schärfer stellt: Erstens erklärt sich das 
Gros der Wahlerfolge Donald Trumps und anderer Nationalisten überwiegend aus 
deren mittelständischer Anhängerschaft, weniger aus der Zustimmung freigesetzter 
und verarmter Lohnarbeiter, sondern von Leuten mit relativ hohem Einkommen, 
deren Existenzangst andere Anstöße und Ursachen hat. Aber es gibt auch den 
besagten, von Didier Eribon in seiner Lebensgeschichte „Rückkehr nach Reims“ 
beschriebenen Switch ehemaliger „proletarischer“ Arbeitnehmer aus der politischen 
Familie der Kommunisten und Sozialisten ins Lager der autoritären Nationalisten. 
Das wäre gewissermaßen eine Fortsetzung des Klassenkampfs mit anderen Zielen, 
wobei die Zielscheiben jetzt Einwanderer und Flüchtlinge sind, Fremde und Muslime 
und andere klassische Sündenböcke, die Einheimische angeblich in einem Prozess 
des großen Bevölkerungsaustauschs verdrängen. Der Inhalt der populistischen 
Methode ist dann: völkisch-autoritärer Nationalismus. 

Dieses Ressentiment spiegelt zweitens weniger ein großflächiges Zentrum- 
Peripherie- oder Stadt-Land-Gefälle, es ist vielmehr in beiden Zonen vorhanden, also 
mikropolitisch in den Metropolen ebenso anzutreffen wie im Hinterland und in Städten 
ebenso intensiv wie auf dem flachen Land. Die sozialökonomische Ungleichheit, 
deren Indikatoren in der unscharfen Aggregatgröße von Regierungsbezirken ermittelt 
werden, ist sehr viel kleinteiliger, oft liegen Prosperität und Depression nur wenige 
hundert Meter auseinander - auch und gerade in Städten, deren 
Durchschnittseinkommen und Arbeitsmarktzahlen erst einmal keinen Grund zur 
Besorgnis signalisieren. Und in den strukturschwachen Regionen liegen Räume, die 
trotz aller Zuwendungen hoffnungslos scheitern, direkt neben solchen, die auch ohne 
große Fördertöpfe aufblühen, wo es wieder Kindergärten, Dorfläden und Bürgerbusse 
gibt, nicht zuletzt übrigens wegen des Zuzugs von Flüchtlingsfamilien, die solche 
benötigen oder betreiben, und eines ehrenamtlichen Engagements, das diese 
Willkommen heißt. 



Ein drittes Fragezeichen ist an der These vom generellen Stadt-Land-Gefälle 
anzubringen. Das Phänomen der Landflucht aus deindustrialisierten, darunter von 
der Agrarindustrie verlassenen Räumen ist unbestreitbar, doch es verschärft die 
sozialen Ungleichheiten und sozialpolitischen Probleme gerade auch in Städten. Dort 
sind die Durchschnittseinkommen in der Regel höher, aber die Kaufkraft oftmals 
niedriger. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung fasste eine 
Zeitung kürzlich in der Formel zusammen: „Stadtluft mag danach zwar im Geiste frei 
machen, aber arm im Geldbeutel.“ Solche Städte werden das neue Land, dorthin 
fordern Oberbürgermeister und Ministerpräsidenten etwa in Nordrhein-Westfalen 
Struktur- und Regionalmittel künftig zu lenken. 

Das französische Beispiel kann die Hypothese vom Abgehängtsein als Ursache 
oder Anlass nationalistischer Erfolge weiter differenzieren. Die Landkarte des 
französischen Hexagons belegt auf den ersten Blick die frappierende 
Übereinstimmung der Anhängerschaft von Marine Le Pen und des Front National mit 
fünf Indikatoren der Ungleichheit: hohe Arbeitslosenquote, hoher Anteil junger Leute 
ohne Berufsabschluss, überdurchschnittliche Armutsbevölkerung, eine große Zahl 
Alleinerziehende und ausgeprägte lokale Ungleichheit. Das betrifft vornehmlich 
Regionen vom Ärmelkanal bis in den Eisass und dann herunter in einen etwa 100 
Kilometer breiten Streifen an der Mittelmeerküste und zurück in das Garonne-Tal 
zwischen Toulouse und Bordeaux. Le Pens Antagonist Emmanuel Macron hatte 
spiegelbildlich in den anderen Regionen die Nase vorn. 

Doch existieren Regionen und Zonen, in denen die fünf Indikatoren 
ausgeprägter sind, Le Pen aber unterdurchschnittlich abgeschnitten hat. Wo der 
Front National also am besten hätte rekrutieren können, obsiegten die anderen 
Kandidaten, darunter Jean-Luc Melenchon und seine globalisierungskritische 
Bewegung. Während Le Pen in Gemeinden mit weniger als 100 Einwohnern 
zwischen 30 und 40 Prozent der Stimmen bekam, sank ihr Anteil im Großraum Paris 
auf 5 Prozent; je bedeutender die Wirtschaftskraft und Reputation der Städte ist, 
desto höher ist der Anteil der Mitte-Links-Wähler. Dort leben, wohl wahr, die meisten 
leitenden Angestellten und andere gut dotierte Berufsgruppen, aber allein die 
sozioökonomische Struktur machte den Erfolg Macrons eben nicht aus. Die Botschaft 
ist vielmehr: Soziokulturelle Einstellungen sind mindestens ebenso wichtig. In den 



großen Städten Frankreichs leben Menschen, die trotz geringem Einkommen und 
Bildungsniveau Frankreich offen halten wollen für Kontakte mit Europa und dem Rest 
der Welt und für Einwanderung. 

Es gibt wohl die „zwei Frankreich“, wie im letzten Wahlkampf immer wieder 
behauptet wurde. Aber es ist nicht das linke und das rechte, die Stadt oder das Land, 
die Spaltung verläuft zunehmend zwischen einem Flexagon, das sich schließt, und 
einem, das offen bleiben will. Die Europa-Karte zu ziehen, war also ein ingeniöser 
Schachzug Emmanuel Macrons, und man darf annehmen, dass es kein rein 
taktischer war, sondern dass er seiner tiefen Überzeugung entsprungen war und sich 
mit den Ambitionen seiner überwiegend jungen Bewegung deckte. Darüber sollte 
man in Berlin und Brüssel intensiver nachdenken. 

Aus den Erfahrungen in Amerika und Europa kann man allgemeine Lehren 
ziehen: Der uralte Stadt-Land-Gegensatz, genauer jetzt: zwischen prosperierenden 
Metropolen und ihren Vorstädten, bleibt eine entscheidende Herausforderung der 
europäischen Gesellschaft. Sozialräumliche Mikrostudien und stadtplanerische 
Überlegungen, möglichst unter früher Einbeziehung der Betroffenen sind jedoch 
aussagekräftiger als agglomerierte Zahlen und Projektionen zu Arbeitsmarkt, 
Sozialtransfers und demografischen Perspektiven. Die Wut und die oft 
menschenfeindlichen Einstellungen der „Abgehängten“ (und damit sollte man diesen 
Begriff endgültig verabschieden) werden nur einzudämmen sein erstens durch eine 
echte Lösung der Wohnungsfrage, die der brutalen Verdrängung der Menschen mit 
geringem und mittlerem Einkommen aus den Städten einen Riegel vorschiebt, und 
zweitens durch eine Infrastrukturpolitik, die Leben und Arbeiten auch auf dem flachen 
Land wieder attraktiver macht. 


Claus Leggewie, 67, ist Politikwissenschaftler und Verfasser der Bücher „Das Ende 
der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie“ 
(2009, mit H. Welzer) und „Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie“ (2011)